Nach einer tollen Saison mit 12 Siegen in Folge ging es am Freitag, dem 9. April 2010 entspannt nach Bremen. Immerhin war die SG Solingen seit 1997 zum ersten Mal wieder in der komfortablen Situation, den Ausgang der Deutschen Meisterschaft zu bestimmen und die „Bronzemedaille“ bereits sicher zu haben.
Da Jan Smeets und Erwin L’ami wegen Sekundantentätikeiten in Sofia und Daniel Stellwagen wegen eines Studienaufenthaltes in den USA nicht zur Verfügung standen und damit zu rechnen war, dass Bremen in starker Aufstellung antreten würde um bestehende theoretische Meisterschaftshoffnungen zu wahren, gaben wir uns jedoch keinerlei Illusion hin, gegen Bremen mehr als Außenseiterchancen zu haben.
Wie Sie der folgenden Aufstellung entnehmen können, wurde unsere Einschätzung am Samstag durch Fakten bestätigt: Eljanov flog eigens aus Russland und Gashimov aus Aserbaidschan für den Kampf ein.
Die Aufstellung des Kampfes Werder Bremen – SG Solingen im Einzelnen:
- P. Nikolic – V. Gashimov (2740)
- L. Mc Shane (2615) – J. Werle (2563)
- R. Edouard (2620) – P. Eljanov (2717)
- L. Fressinet (2658) – A. Jussupow (2566)
- M. Ragger (2561) – A. Areshenko (2667)
- T. Nyback (2615) – S. Ernst (2589)
- A. Naumann (2522) – Z. Hracek (2606)
- V. Babula (2569) – M. Hoffmann (2513)
Freunden der Statistik wird nicht verborgen geblieben sein, dass Bremen an jedem einzelnen Brett favorisiert ist und unter Zugrundelegung der inoffiziellen Elozahl von Predrag Nikolic im Durchschnitt 82 Punkte stärker ist.
Doch genug des Vorgeplänkels, gehen wir nun „ in medias res“.
Relativ schnell war abzusehen, dass die Partie Naumann – Hracek ohne größere Spannungen in einem geschlossenen Katalanen friedlich enden würde. Wie in einer früheren Partie gegen Levin wählte Alexander mit 8. Dc2 und 12. cd5: ein zwar sicheres, aber wenig Aussichten auf Vorteil bietendes Abspiel gegen die solide schwarze Aufstellung. Meines Erachtens ist mit 8. Lf4 gefolgt von 9. Sc3 und im weiteren Verlauf mit dem schärferen 12. Sc3 eher um Eröffnungsvorteil zu kämpfen.
Auch in der Partie Ragger – Areshenko konnte der Anziehende keinen Eröffnungsvorteil erzielen. 8. Lb5+ ist eine sehr sichere Variante im Grünfeld-Inder. Allerdings sollte Weiß nach 8… Ld7 im Vorteilssinne eher mit dem trickreichen 9. Le2!? fortfahren. Danach ist der Druck des Schwarzen auf den Punkt d4 durch die Läuferstellung auf d7 gemindert. In der Partie sieht die weiße Stellung zwar auch minimal besser aus; durch präzise Verteidigung gelingt es dem Nachziehenden im Endspiel jedoch, den halben Punkt zu sichern.
Anlass zur Sorge bot unsere dritte Weißpartie, Edouard – Eljanov, bereits nach der Eröffnungsphase. In einem Nimzowitsch-Inder wählte Weiß mit 5. Lg5 eine recht harmlose Aufstellung. Nach weniger als 20 Zügen sah sich der Anziehende bereits mit Springerpaar gegen Läuferpaar unangenehmem positionellen Druck ausgesetzt. Eljanov konnte im Fortgang der Partie seine Vorteile systematisch zum Sieg verdichten.
Damit stand es bereits 1:2, ohne dass in einer einzigen Weißpartie Gewinnchancen generiert werden konnten. Bereits nach Beendigung der Eröffnungsphasen war also nur noch auf ein Wunder zu hoffen.
Dieses sollte sich jedoch auch in der nächsten Partie, Nyback – Ernst, nicht erfüllen. Sipkes Zug 11… a6 ist nach meiner Einschätzung keine Verbesserung gegenüber dem gebräuchlicheren 11… b6 12. Dc4: La6 13. Sb5 Dd5 mit leichtem weißen Vorteil. Es war jedoch noch nichts Entscheidendes passiert, bis Weiß 16. d5!? Spielte. Nach dem richtigen 16… ed5: 17. Sc2 Sc2: 18. Tc2: Lb7 19. Se1 Te8 20. e3 sollte das aktive schwarze Figurenspiel die strukturellen Mängel (fast) aufwiegen. Nach 17. Sd4 steckt Schwarz in der Partie bereits in einigen Schwierigkeiten: der Sa5 wird bis zum Ende der Partie ein Unglücksrabe bleiben. Vielleicht hatte Sipke die Stärke von 21. Lh3 unterschätzt. Nach 23. Td1! mit der Doppeldrohung 24. b4 und 24. Le6:+ war allein mit Sb7 24. Lg2! Tc7 25. Sb3 d5 26. e4 bei klarem weißen Vorteil noch Widerstand zu leisten.
Damit lag Solingen bereits 1:3 hinten!
Leider bot auch die Partie Nikolic – Gashimov wenig Aussicht für uns, die drohende Niederlage des Kampfes noch abzuwenden. In seiner Lieblingseröffnung, dem Benoni, sparte der Nachziehende im Fianchetto-System listig die Züge a6 und a4 ein. Nach meinem Kenntnisstand sollte Weiß diese Unterlassung versuchen, mit 10. Lf4 zu nutzen. Im elften Zug gefällt mir wiederum der Zug h3 besser. Nach der interessanten Nuance 11… b6!? dürfte Schwarz bereits die Eröffnungsprobleme gelöst haben. Mit dem dynamischen 12… Se5!? verbessert Schwarz schließlich das aus einigen Vorgängerpartien bekannte 12… La6 13. Sc4 Lb5: 14. ab5: Se5 und ungefährem Ausgleich (z.B. Quinteros – Granda Zuniga 1993). Auf diese Weise bleiben alle Figuren auf dem Brett und Weiß verliert viel Zeit mit dem Rückzug des Sb5. 13. f4 Seg4 wäre jetzt einfach zu riskant. Nach 15… b5 ist die Initiative bereits offensichtlich auf Schwarz übergegangen. Die schwarze Strategie geht voll auf und nach 23… Ta8 zeigt sich, dass Schwarz die Lage brettumfassend beherrscht. Dem sich anschließenden Königsangriff hat Weiß aufgrund nur mangelnder Figurenkoordination schließlich nur wenig entgegenzusetzen.
Damit stand es bereits 1:4 und weil die Partie von Jan Werle keinerlei Siegchancen verhieß, konnte es bereits nur noch um Schadensbegrenzung gehen.
Kommen wir nun zur Partie Fressinet – Jussupow, in der Artur mit seinem Schicksal hadern wird. In einer komplizierten Mittelspiel-Stellung im Bogoljubow-Inder, in der beide Seiten sehr prinzipiell gespielt hatten, konnte Weiß statt mit 20. Lg5 mit 20. Dd5:!? Sb6 21. Da2 Dd7 22. Tb1 Sd3 23. Td1 Lf5: 24. gf5: Sc1: 25. Tdc1: und etwas Vorteil (Rybka) bereits einen Bauern einstreichen. Die entstandene Stellung bietet für das menschliche Auge aber einfach zu viele Bauernschwächen (insbes. b5 und a3). Auch statt 21. Lf4 war 21.Dd5: möglich, aber auch hier bleibt die Stellung nach 21… Se6 kompliziert und unklar: Schwarz steht sehr aktiv. Der erste entscheidende Moment dieser scharfen Partie war nach 26. Ld3 erreicht. Jetzt war 26… Dc3 stark. Nach 27. h5 (27. Te3 Db3 28. Df3 Db2 29. Tb1 Da2) Lf5: 28. Lf5: La3: 29. h6 Lb4 30. Tf1 Lf8 sieht der schwarze Königsflügel verteidigungsfähig aus, während Schwarz auf der anderen Seite des Brettes bereits erhebliche Fortschritte gemacht hat. Der Nachziehende sollte bei weiterhin scharfem Kampf die zumindest etwas besseren Karten haben.
Der entscheidende „Bock“ passierte allerdings erst nach 29.Lf5. Jetzt steht die Partie nach 29… Kh8 30. h6 g6 31. Lc2 Dc3 oder 30. Kg2 Db5: weiter auf des Messers Schneide und alle drei Partieausgänge sind denkbar. Bei 29… Sd4 muss Artur übersehen haben, dass am Ende der Abwicklung der schwarze Turm auf c8 ungedeckt ist. 30… Tc8: statt des Partiezuges war noch deutlich zäher, allerdings ist Weiß nach der möglichen Folge 31. Kg2 Se6 32. h6 bereits deutlich am Drücker.
Tja, damit war der Kampf bereits besiegelt.
Kommen wir damit zum einzigen Lichtblick der Solinger an diesem Tage, der Partie Babula – Hoffmann. Hier kam eine scharfe Partie in der „Anti-Moskau-Variante“ des Slawen auf´s Brett. Weiß wählte statt des gebräuchlichen 14. a4 und der möglichen Folge 14… e5 15. Lg4 ed4: 16. e5 c5 17. Te1 …, was ich unlängst noch selber als Weißer(!) mit Sandipan Chanda in Gibraltar diskutiert hatte, den Zug 14. e5. Mit 19… Df6!? folgte ich einem Vorschlag Dreevs in seinem kürzlich erschienenen vorzüglichen Buch „The Moscow & Anti-Moscow Variations, an Insider´s View“. Dies verbessert möglicherweise 19… Dd7 aus zwei Vorgängerpartien, wonach mir die Folge 20. Tad1 Tad8 21. Dg3 Df5 22. f4!? (De3 ist auch etwas besser für Weiß) g4 23. Le5 und einiger Initiative für Weiß wegen des luftigen schwarzem Monarchen nicht gefiel. Die Dame steht auf d7 in dieser Variante nicht optimal. Das Endspiel nach 23… Thc8: ist völlig ausgeglichen, so auch die Bewertung von Dreev. Allerdings muss in diesem Zusammenhang erwähnt werden, dass mich meine Kenntnisse nach 19… Df6 verließen.
Bis 31… Kf5 entwickeln sich die Ereignisse folgerichtig. Weiß sollte jetzt mit 32. Tf7+ oder 32. Kh2 den Remishafen ansteuern. Vlastimil, der keine gute Saison hatte, strebte jedoch kämpferischerweise nach mehr. Die Hoffnung, dem schwarzen „Pacman-König“ beizukommen, sollte sich jedoch alsbald als Illusion herausstellen. Vielmehr entwickelt der schwarze König, nachdem er seine Wanderung zum Damenflügel unbeschadet überstanden hat, in Zusammenarbeit mit den Türmen enorme Kräfte. Nach 33… Ke3 sollte Weiß seine letzte Chance nutzen, mit entweder 34. Tb2 T3c4 oder 34. Tad7 Tc2 35. T7d3+ Kf4 in einem nur leicht schlechteren Endspiel auf Verteidigung umzuschalten. Nach Erreichen der Zeitkontrolle mit 40… Tc2 dagegen ist die weiße Stellung bereits aufgabereif.
Damit hatten wir immerhin den „Anschlusstreffer“ zum 2:5 geschafft!
Kommen wir schließlich zur letzten Partie McShane – Werle, in der Jan mit aktiver Verteidigung noch ein sehr schlechtes Endspiel halten konnte. Nach einer ruhigen italienischen Eröffnung setzte Jan im Mittelspiel unter Materialopfer auf eher nebulöse Angriffschancen am Königsflügel. Nach der Zeitkontrolle konnte der Weiße aber mit dem umsichtigen 47. Te2 De6 48. Te3: de3: 49. Df3 Sc5 50. Le2 Sb3 51. Da8+ Kh7 52. Dd5 (Rybka) alle schwarzen Bemühungen zunichte machen. Später war statt 49. Kg2 mit 49. Tf2 immer noch einiger Vorteil festzuhalten. In der Partie kompensiert dagegen nach 49… Te1 die schwarze Aktivität die beiden Minusbauern vollauf, so dass der Remisschluss korrekt ist.
Fazit: Der Bremer 5½:2½-Sieg geht auch in der Höhe in Ordnung. Von dieser Stelle Glückwünsche zu einer ausgezeichneten Leistung in diesem Kampf!
Michael Hoffmann