Aufgrund einer unzureichenden Chancenauswertung musste sich unser Bundesliga-Oktett gegen die Sensationsmannschaft der Saison, den Hamburger SK, mit 3½:4½ geschlagen geben und ist damit mit 11:11 Zählern ins breite Mittelfeld der Tabelle zurückgefallen. Interims-Teamchef Valentino Usein war darüber etwas zerknirscht, musste er doch trotz der Führung durch Siege von Jan Smeets und Daniel Stellwagen nach Niederlagen von Michael Hoffmann, Christian Gabriel und Sipke Ernst, erstmals überhaupt eine Niederlage als Captain in der Bundesliga hinnehmen.
Der Kampf gegen die sehr sympathischen Hanseaten, bei denen in dieser Saison Evi Zickelbein die Mannschaftsführung von ihrem Vater, dem Bundesliga-Sprecher und Vorsitzenden Christian Zickelbein, übernommen hat, begann mit einer Reminiszenz an frühere Zeiten um 9.00 Uhr, nachdem ursprünglich am Nachmittag noch das Fußball-Regionalliga-Spiel zwischen Werders Reserve und dem FC St. Pauli im Weserstadion stattfinden sollte. Doch auf Intervention von Klaus Allofs musste der Rasen für die bevorstehende englische Woche der Profis geschont werden, so dass das Fußball-Spiel verlegt wurde, die frühe schachliche Anstoßzeit um 9.00 Uhr im Einvernehmen der Mannschaftsführer aber beibehalten wurde.
Unser Vorteil hielt sich dabei allerdings in Grenzen, da Jan Gustafsson nicht auf dem Spielberichtsbogen der Hamburger auftauchte und auch andere Morgenmuffel wie Dirk Sebastian mit nur kleiner Verspätung den Weg ans Brett fanden. Wer in Anbetracht des frühen Beginns und des kompromisslosen Fights vom Vortag mit einigen schnellen Remisen gerechnet hatte, sah sich getäuscht. Das attraktive Kampfschach vom Vortag setzte sich nahtlos fort. So gab es bereits vor der Zeitkontrolle einige entschiedene Partien zu verzeichnen.
Jan Smeets attackierte – vielleicht noch ein wenig verärgert ob der ausgelassenen Chance vom Vortag – den beschleunigten Drachen von IM Oliver Reeh (2445) in einem Maroczy-System sehr aggressiv am Königsflügel. Als der Ex-Solinger einmal die korrekte Fortsetzung verpasste, kam er nicht mehr in die Partie zurück und musste sich bald geschlagen geben.
Den Ausgleich gab es wenig später in der Partie von Michael Hoffmann. Dieser hatte versucht, das Angriffsschach von GM Dr. Karsten Müller (2500) mit dem klassischen 1…e5-Return einzudämmen, doch letztlich landete er in einer italienischen Gambit-Variante, in der für den Preis eines Bauern der schwarze König in der Brettmitte verblieb, so dass Müller eine Remisofferte ablehnte und nach einigen suboptimalen Verteidigungszügen zum vollen Zähler vollstreckte.
Doch Daniel Stellwagen stellte wenig später die Führung wieder her. Gegen das Hamburger Bundesliga-Urgestein GM Lubomir Ftacnik (2580) gelang Daniel dabei das seltene Kunststück, den Theorie-Experten aus einer Scheveninger-Struktur in einem gefälligen Königsangriff zu bezwingen. Nach dem Abtausch aller Leichtfiguren konnte Daniel mit seinen Schwerfiguren den Weg zum schwarzen König freilegen, so dass er nach einem Turmopfer mit Mattfinale seinen zweiten Sieg des Wochenendes einfahren konnte. Kurz vor der Zeitkontrolle schlugen die Hamburger dann wieder zurück. IM Thies Heinemann (2453) gelang es, in einem typischen Abtausch-Spanier-Endspiel mit Türmen und ungleichfarbigen Läufern, gegen Christian Gabriel immer mehr Raum zu gewinnen und schließlich entscheidend in die schwarze Stellung einzudringen, was den Verlust mehrerer Bauern und die schwarze Aufgabe zur Folge hatte.
In den anderen Partien ging es zum Teil so chaotisch zu, dass der Kampf mit den Hamburgern das Duell mit Bremen in Punkte Dramatik noch übertraf: Am Spitzenbrett hatte Predrag Nikolic gegen die bärenstarke Hamburger Neuverpflichtung GM Radoslav Wojtaszek (2630) eine verdächtige Variante des angenommenen Damengambits gewählt, die den schwarzen König in der Brettmitte beließ, wo er sich ständigen Angriffen des weißen Springerpaares in Verbindung mit den Türmen ausgesetzt sah. Wojtaszek verbesserte sukzessive seine Stellung, um dann in der Zeitnotphase ein zweizügiges Matt auszulassen, wodurch Nikolic in ein Endspiel mit Minusqualität, aber exzellenten Remischancen entwischen konnte. Ein umgekehrtes Bild bot sich bei Alexander Naumann, dessen Gegner GM Robert Kempinski (2590) mit Weiß in einer ausgeglichenen Damenindisch-Stellung ein etwas unmotiviertes Qualitätsopfer gebracht hatte und nun um den halben Zähler kämpfte. Jan Werle hatte in seiner Partie mit GM Sune Berg Hansen (2561) einigen Raumvorteil gegen das moderne 4…a6-System im Slaven erlangt. Allerdings konnte er diese optischen Vorteile in der verschachtelten Position nicht weiter verdichten, sondern verlor in der Blitzphase sogar einen Bauern, was aber nichts am remisen Ausgang des entstandenen Bauernendspiels änderte.
Auch die Partien von Nikolic und Naumann endeten mit einer Punkteteilung, so dass die Entscheidung am Brett von Sipke Ernst fiel. Dieser machte seinem Ruf als schachliches »Enfant terrible« wieder einmal alle Ehre. Gegen IM Dirk Sebastian (2385) hatte er in einer ruhigen Englisch-Struktur gegen die beiden isolierten Doppelbauern des Hamburgers klare positionelle Vorteile erlangt und schien einem vollen Zähler entgegenzusteuern, als ihm ein ähnlicher Aussetzer wie am Vortag passierte, indem er zunächst etwas unnötig einen schwarzen Freibauern auf der c-Linie erlaubte und er dann die schwarzen Schwerfiguren auf der a-Linie in seine Stellung eindringen ließ, was ihm entscheidendes Material und die Partie kostete.
So hatten die Hamburger mehrfachen Grund zum Feiern: Mit seinem vierten Sieg in Folge sicherte sich Sebastian seine IM-Norm und dem Team den Sieg, der sie weiter auf den Champions-League-Plätzen hält. Unsere Mannschaft hat sich schachlich toll verkauft, aber mit einem Zähler etwas wenig Zählbares aus Bremen mitgenommen. Trotz des schweren Restprogramms soll nun zumindest ein ausgeglichenes Punktekonto am Ende der Saison erreicht werden.