Nach Übernachtung in einer Nobelherberge ging es am Samstag zunächst wohlmotiviert gegen die Schachfreunde Berlin an die Bretter. Obwohl wir an fast allen Brettern nominell favorisiert waren, wußten wir aus der Vergangenheit, daß die ehemaligen Neuköllner stets ein ernstzunehmender Gegner sind. In diesem Jahr sollten wir den Kampf jedoch ungefährdet zu unseren Gunsten entscheiden.
An Brett 6 steuerte Sipke gegen Stephan Berndt (2440) zunächst ein solides Schwarzremis zum Gesamterfolg bei. Gegen Sipkes Ernsts Russische Verteidigung wählte Berndt mit 5. de5: eine relativ seltene, aber in letzter Zeit populärer werdende Variante. Sipke reagierte mit 5… Sc5 gut, ein Zug der unter anderem von Kramnik 2008 in einer Schnellpartie erfolgreich gegen Navara angewandt worden ist. Insgesamt ist mein Eindruck, daß der weiße Aufbau Anhängern der Russischen Verteidigung keine schlaflosen Nächte bereiten kann. Im weiteren Verlauf versucht Weiß, mit 10. Sf5 bereits, die Partie auszugleichen. Tatsächlich denke ich, daß sich im 16. Zug Sipkes Spiel mit 16… Tae8 17. Le3 b6 18. Tae1 Se4 oder mit 16… Se4 17. Le3 Sd6 jeweils mit leichtem schwarzen Vorteil verbessern läßt. Der spätere Remisschluß in ausgeglichenem Leichtfigurenendspiel geht völlig in Ordnung.
Als nächste Partie endete überraschend zügig die Partie an Brett 1 zwischen Predrag Nicolic und Jan Markos (2557) mit einem Sieg des Weißen. Predrag gelang es in unnachahmlicher Weise aus einer zunächst harmlos aussehenden Mittelspielstellung die dynamischen Vorteile der eigenen Position fruchtbar zu machen. In einem g3-Grünfeldinder wählte Predrag mit 7. b3 eine seiner zahlreichen »Hausvarianten« abseits des »Mainstreams« aus. Markos reagiert mit 7… dc4: sehr ehrgeizig, in der Hoffnung, durch Zentrumsaufgabe den weißen Bauern c4 als potentielle Schwäche zu markieren. Solider ist an dieser Stelle entweder 7… a5 oder Se4 möglich. Da sich jedoch auch Svidler als ausgewiesener Grünfeld-Experte bereits für diese Interpretation der Stellung erwärmen konnte, hat der Zug sicherlich seine Pluspunkte. Beide folgen zunächst einer Partie Predrags gegen Khalifman von 1996, bis Weiß mit 11. Db3 sein damaliges Spiel verbessert. Bereits die unmittelbare Reaktion des Schwarzen scheint mir zweifelhaft, statt 11… Sbd7 sollte besser Sa6 oder Td8 oder Sfd7 geschehen. Auch der nächste Zug des Schwarzen, Sc5, gefällt mir nicht und sollte vielleicht besser durch 12… Sg4 ersetzt werden. Nach der starken Antwort 13. Da3 sehe ich Predrag bereits im Vorteil. Insgesamt wirkt die schwarze Figurenanordnung nicht sehr harmonisch. Im weiteren Verlauf baut Weiß den Vorteil aus und nach 21. Sa5 ist es bereits sehr schwierig, dem Führer der schwarzen Steine noch einen guten Rat zu geben. Die fehlende Entwicklung und die Schwächen auf b7 und e4 besiegeln schließlich das schwarze Schicksal.
Als nächste Partie endete meine an Brett 7 mit einem weiteren Weißsieg für Solingen. In meiner Partie gegen Evgeny Degtiarev (2388) sorgte mein Gegner durch die Wahl seiner Eröffnung dafür, daß bereits nach 4 Zügen eine für mich völlig unbekannte Stellung entstand. Der Zug 4… d5 ist der Versuch, aus zwei verschiedenen Eröffnungen (Damenindisch und Grünfeld) günstige Elemente in den schwarzen Partieaufbau einfließen zu lassen. Allerdings sollte sich auch hier bewahrheiten, daß es im Schach selten etwas »umsonst« gibt. Vielleicht wäre es doch keine so schlechte Idee gewesen, mit 4… e6 in bekannte damenindische Gewässer einzulaufen?!
Jedenfalls meine ich, daß mir mit 5. Lg5 und 8. Da4+ am Brett ein passabler Plan eingefallen ist, wirksam um Eröffnungsvorteil zu kämpfen. Im weiteren Verlauf kann Schwarz zwar sein Spiel mit 10… Sc6 statt Le7 sowie später 11… Dd5 12. Le7: Ke7: 13. f3 Sc6 14. Lc4 Da5 verbessern; in beiden Fällen ziehe ich jedoch die weiße Stellung trotzdem etwas vor. Ernstere Formen nimmt der weiße Vorteil jedoch erst an, als sich Schwarz für 12… f6 statt 12… 0-0 13. Ld3 h6 14. 0-0 Sd7 und im 14. Zug für das disharmonische 14… Sf8 statt der Empfehlung unseres seelenlosen Kollegen 14… De7 entscheidet. Wenig später war der aus dem Läuferpaar und dem Entwicklungsvorsprung resultierende Vorteil bereits so überwältigend, daß ich mich mit einem schnöden Qualitätsgewinn (23.Lc6) bzw. einem Damengewinn (28.Te1) nicht zufrieden geben mußte.
Wenn Ihr in der Schlußstellung das mit 33. f3 beginnende 7-zügige Matt auch nicht sofort seht, ist dies für mich sehr trostreich. :) Wie man dem Finale der Partie entnehmen kann, ist nicht jeder schwarze König als »Pacman« überlebensfähig!
Weniger gut aus unserer Sicht verlief es in Alexander Naumanns Partie gegen den Topscorer der Schachfreunde, Arnd Lauber(2497), an Brett 4. In einer nicht sehr häufig vorkommenden Slawischvariante wählte Alex mit 6… Sf6 und 7… e5 ein leider viel zu optimistisches Konzept, den weißen Aufbau zu bekämpfen. Dies führte zwar zu einem zeitweiligen Mehrbauern, aber gleichzeitig zu einem weißen Entwicklungsvorsprung, der die kleine materielle Einbuße bei weitem (über-)kompensierte. Wie ein Blick in einschlägige Quellen verrät, wäre stattdessen 6… e6 7. Sf3 Sf6 8. Sg3 La6 9. Lg5 Da5 mit normaler, gut spielbarer Stellung richtig gewesen. Mit 20. Lf4 statt Te1 hätte der Weiße vermutlich den Partieausgang erheblich verkürzen können. In der Partie bot sich mit 22… Td8 statt a6 die unverhoffte Möglichkeit, in schlechterer Stellung noch erheblichen Widerstand zu bieten, aber sicherlich war Alex zu diesem Zeitpunkt schon durch den Partieverlauf demoralisiert… Dies sollte der »Ehrentreffer« für die Schachfreunde bleiben.
Eine weitere gute Weißpartie lieferte Markus Ragger gegen Ilja Schneider (2486) an Brett 5 ab, zeigte er doch, daß sein Eröffnungsrepertoire breiter ist als bisher angenommen und er auch »damenlose Mittelspiele« virtuos zu behandeln weiß.
Mit 11. Se3 verbesserte Markus in einer katalanischartigen Stellung die Spielführung weißer Vorgängerpartien. Vielleicht tragen hier bereits die Trainingseinheiten mit Zoltan Ribli Früchte… Schneiders Reaktion mit 13… Ld7 scheint mir zumindest diskussionswürdig. Nach 13… c3 14.bc3: Sd7 15. Sc4 Tb8 16. 0-0 Ke7 sehe ich durchaus intakte Verteidigunschancen für Schwarz, auch wenn die weiße Stellung etwas angenehmer wirkt. Im Partieverlauf wird die offnene c-Lninie dem Schwarzen noch viele Sorgen bereiten. Auch später konnte sich Schwarz wahrscheinlich zäher verteidigen, aber niemals ausgleichen. So mag 14… Sc6 stärker sein als 14… Lc6, und 15… Ke7 ist vielleicht genauer als der freiwillige Tausch auf g2.
Erstaunlich ist, daß die schwarze Stellung nach 20. Sf3 kaum noch zu verteidigen ist, obwohl Weiß nur im Besitz eines Mehrbauern in Form eines Doppelbauern ist. Schwerer wiegt jedoch die Tatsache, daß Weiß die offenen c- Linie für die Vorbereitung weiteren Ungemachs nutzen kann. Neckisch ist schließlich noch das Finale nach 30.Se4!, das dem Schwarzen mittels Taktik den Rest gibt.
Zur Zeitkontrolle sollte schließlich auch die Partie von Rainer Buhmann gegen Rainer Polzin (2500) an Brett 3 beendet sein, die unseren »Weißtriumpf« an diesem Tag komplettierte.
Durch Zugumstellung fanden sich die Kontrahenten nach der Eröffnung in einem für beide unbekannten Paulsen-Sizilianer wieder. Beachtenswert ist, daß der Versuch, mit 11… Sc5 das weiße Läuferpaar zu halbieren, mit 12. Lb1 beabtwortet werden kann, was nach einem evntuellen späteren Doppelangriff mit Dg4 vorteilhaft den Bg7 für den Be4 gewönne.
Die schwarzen Züge 12… Tc8 (gehört eigentlich eher nach d8!) und 15… Db8 scheinen mir etwas zu schematisch, insbesondere 15… Dc5 war eine interessante Option für Schwarz mit der späteren Idee Dh5. In der ersten kritischen Stellung der Partie nach 18. e5 sollte sich Schwarz wohl zu 18… de5: 19. fe5: Sh5 durchringen, allerdings ist die weiße Stellung auch hier nach 20. Sf3 angenehmer zu spielen.
In der Partie konnte Rainer statt mit 20. e6 einfach und gut die Qualität mit 20. Lf5: Se5: 21. Lc8: einstreichen, ohne daß ausreichende Kompensation ersichtlich wäre. In der zweiten kritischen Situation der Partie nach 21. Se6: hätte dem Schwarzen der bizarr anmutende Zug 21… Sg7 nach z.B. 22. Sg5 h5 23. Se2 b5 durchaus noch ernstzunehmende Gegenchancen geboten. Alles in allem hat sich Rainer in ungewohnten Stellungsbildern gut orientiert.
Zur Zeitkontrolle war damit der Kampf bereits zu unseren Gunsten entschieden. Wenig später endete die Schwarzpartie von Romain Edouard gegen Lars Thiede (2469) an Brett 8 remis. Thiede wählte mit Weiß einen Pirc-Aufbau im Anzug, der unserem französischen Youngster keinerlei Probleme stellte. Vielmehr war Romain derjenige, der im frühen Mittelspiel das Gesetz des Handelns an sich reißen konnte und bis zum Schluß immer »am Drücker« blieb. Die weißen Figuren verließen ihr angestammtes Territorium auf den letzten drei Reihen nur, um getauscht zu werden…
Vermutlich hätte Romain nicht mit 25… Lf3: die Spannung aufheben sollen. Im reinen Schwerfigurenendspiel fehlen schließlich die nötigen Ansatzpunkte, um weitere Gewinnbemühungen geltend zu machen.
Zum erfreulichen Abschluß konnte schließlich Artur Jussupow seine Schwarzpartie gegen Normunds Miezis(2557) an Brett 2 zum 6:2-Endstand gewinnen. Miezis erwies sich hier als weiterer Liebhaber fester Strukturen, bei denen es nicht so sehr darauf ankommt, den Gegner bereits in der Eröffnung als Weißer unter Druck zu setzen. Hier wählte Weiß innerhalb der Englischen Eröffnung die Botwinnik-Struktur mit c4 und e4 oder anders gesagt spielte er einen geschlossenen Sizilianer mit Mehrtempo, das in geschlossenen Stellungen jedoch nicht merklich ins Gewicht fällt.
Was aus weißer Sicht im Mittelspiel schieflief, ist schwer zu sagen. Klar ist nur, daß nach 27. Tf2 Schwarz bedenklich in Vorteil kommt. Besser war 27. Te8 Te8: 28. De8: Lf5 29. Se1 und die weiße Stellung sollte zu halten sein, obwohl Schwarz etwas angenehmer steht. Nach 29… Sh5 dagegen ist die Partie bereits gelaufen und alle durften sich auf einen entspannenden Ausklang des Abends im Restaurant freuen.
Michael Hoffmann