Man stelle sich vor, dass man in den Urlaub fährt und plötzlich im gleichen Hotel wie Ballack und Co. vor ihrem nächsten Länderspiel wohnt. So ähnlich ergeht es uns seit gestern, da außer unseren Zimmern die komplette Hoteletage von der mazedonischen Fußball-Nationalmannschaft bevölkert wird, die sich in Ohrid auf ihr Freundschaftsspiel gegen Katar am Samstag vorbereitet. Diese Umstände bewogen uns, unsere erste Turnierhälfte auch einmal unter Fußball-Gesichtspunkten zu analysieren und dabei festzustellen, dass wir mit Jörg Wegerle zwar einen glänzenden Torwart, aber mit Michael Hoffmann nur einen torgefährlichen Stürmer in unseren Reihen haben. Wenn er nicht trifft, verlieren wir. Also musste gegen unsere Gegner von der finnischen Mannschaft von Shakkikerlo Salsk eine offensivere Spielweise des »Mittelfelds« her. Prompt avancierte Andreas Peschel zum Matchwinner, als er nach dem Führungstreffer von Michael Hoffmann das zweite Tor erzielte, so dass wir sogar eine Niederlage von Jörg Wegerle verkraften und trotzdem den zweiten 3½:2½-Sieg feiern konnten.
Dabei hatte der Kampf genau wie die gestrige Niederlage gegen Kaunas begonnen. Wir hatten wieder ein »Heimspiel«, so dass Thomas Michalczak erneut mit den weißen Steinen gegen einen routinierten GM antreten durfte. Dabei handelte es sich um unser langjähriges Vereinsmitglied Heikki Westerinen (2315), der den wie immer bestens präparierten Tom auf dem falschen Fuß erwischte. Wie gestern kam eine seltene Variante des spanischen Tschigorin-Systems aufs Brett und erneut konnte Thomas trotz längeren Nachdenkens kein Zutrauen in seine Stellung gewinnen, so dass es bald zur Punkteteilung durch Zugwiederholung kam.
Das nächste Remis steuerte Oliver Kniest bei, der die überraschende Eröffnungswahl seines Gegners Hannu Pihlajasalo (2264) mit einer Nebenvariante im Nimzo-Inder kontern wollte, aber letztlich zufrieden war, in leicht schlechterer Stellung ein Remisangebot annehmen zu können. Dann schlug die große Stunde von Michael Hoffmann. Dieser hatte im Hinblick auf seine bisherigen 0/2 mit den weißen Steinen beim Mittagessen noch darüber philosophiert, dass der Anzugsvorteil hoffnungslos überbewertet sei. Dies hinderte ihn aber nicht daran, gegen die Tarrasch-Verteidigung des Esten IM Kalle Kiik (2467) eine perfekte Eröffnungsvorbereitung zu demonstrieren, die erst im vorteilhaften Doppelturmendspiel endete, das Michael dann mit großmeisterlicher Technik nach Hause brachte.
Diese 2:1-Führung gab Anlass zum Optimismus, doch leider ließ Milon Gupta seine schön herausgespielten Stellungsvorteile gegen Juha Kivijärvi (2231) aufgrund kleiner Ungenauigkeiten im Endspiel ungenutzt, so dass es auch bei beiderseitiger Zeitknappheit zur Zugwiederholung und dem Friedensschluss kam. So fehlte noch ein voller Zähler zum Gesamtsieg, und dieser wurde von Andreas Peschel mit den schwarzen Steinen mustergültig herausgespielt. Sein Kontrahent Juha Hynninen (2139) hatte bisher mit 2½/3 gegen starke Gegner ein glänzendes Turnier gespielt, kam aber in der Moskauer Variante der halbslawischen Variante nicht richtig zurecht. Als er die letzte Chance zu taktischen Verwicklungen verpasst hatte, half ihm sein zuverlässig blockierter Freibauer auf d6 nicht weiter, sondern Andreas spielte seinen Trumpf, das Läuferpaar, souverän aus, sammelte ein paar Bauern ein und wickelte ins gewonnene Endspiel ab.
Dies bedeutete nicht nur unseren ersten Sieg im Turnier an den Brettern 2–6, sondern vor allem den eminent wichtigen Siegtreffer, da ausgerechnet unser Torwart Jörg Wegerle einen schwarzen Tag erwischt hatte. Bereits in der katalanischen Eröffnung verwechselte er zwei Zugfolgen, so dass GM Mikhail Ivanov (2459) mit deutlichem Vorteil ins Mittelspiel ging. Auch im weiteren Verlauf zeigte sich Jörg nicht ganz so zäh wie gewohnt, so dass der Russe trotz einiger technischer Schwächen im Doppelturmendspiel schließlich unsere einzige Niederlage an diesem Tag zum 3½:2½-Endstand besiegeln konnte.
Mit 4:4 Punkten sieht damit die Zwischenbilanz wieder etwas freundlicher aus. Morgen geht es gegen das holländische Team des HSC Calder mit unserem Nationalspieler Daniel Fridman und dem jüngsten Großmeister der Welt Anish Giri an den Spitzenbrettern. Die Niederländer sind natürlich klar favorisiert, aber vielleicht treffen morgen ja noch ein paar Geheimwaffen unseres defensiven Mittelfelds das Tor!
|