Kurz vor der Zeitkontrolle waren sich die Beobachter und Schlachtenbummler bei der Beurteilung des Spitzenspiels zwischen den beiden Tabellenführern der Oberliga NRW, nämlich unserer Zweiten im Duell mit der Bundesliga-Reserve vom SK Turm Emsdetten absolut uneinig. Zwar lagen wir nach einer schnellen Weiß-Niederlage von Nikolaj Krieg mit 0:1 zurück, doch an den übrigen Brettern gab es diverse zweischneidige und auch einige vielversprechende Stellungen, so dass von einer knappen Niederlage bis zu einem knappen Sieg alles möglich erschien.
Etwa zwei Stunden später war keine einzige gute Stellung verwertet worden, aber alle kritischen Positionen verloren gegangen, was eine mehr als drastische 2:6-Niederlage zur Folge hatte, die einen empfindlichen Dämpfer im Kampf um den sofortigen Wiederaufstieg bedeutet und die Mannschaft von Markus Schäfer zunächst auf Rang 4 der Tabelle zurückwarf. Im Spitzenduell der beiden bisher verlustpunktfreien Mannschaften der Liga vertrauten beide Teams auf ihre gewohnten Aufstellungen, wobei wir auf Martin Becker verzichten mussten, für den jedoch Dr. Daniel Schlecht zur Verfügung stand. Die nominelle Ausgangslage war klar: während die Elo-Zahlen sich an den ersten sechs Brettern weitestgehend neutralisierten, besaßen wir an den Brettern 7 und 8 gewisse Vorteile. Es entwickelte sich dann ein überaus interessanter Kampf, bei dem an allen Brettern spannungsreiche Stellungen entstanden.
Nach knapp drei Stunden galt es den ersten Rückschlag zu verkraften: der sonst so solide Nikolaj Krieg unterschätzte mit Weiß in einer halbslawischen Meraner Variante die Angriffschancen des in dieser Saison mit 4/4 bisher famos aufspielenden niederländischen FM Stefan Kuipers (2365) und musste nach materiellen Verlusten in Verbindung mit seiner stark geschwächten Königsstellung aufgeben. In den übrigen Positionen setzten beide Teams ihre Hoffnungen vor allem in die Weiß-Partien. So war Jörg Wegerle mit Schwarz gegen den früheren Solinger Thomas Fiebig (2417) in einer spanischen Berliner Verteidigung in einem sehr schwierigen Turmendspiel gelandet, in dem die beiden verbundenen weißen Freibauern am Königsflügel selbst die bekannten Verteidigungsfähigkeiten von Jörg zu überfordern schienen. Auf der anderen Seite hatte Lorenz Drabke mit einer exzellenten positionellen Vorstellung inklusive Qualitätsopfer eine sehr gute Stellung mit gedecktem Freibauern auf d6 gegen den aufstrebenden IM Twan Burg (2450) erreicht. Auch Markus Schäfer und Dr. Daniel Schlecht schienen in ihren Partien gegen IM Alexander Kabatianski (2410) und Michael Topp (2102) vielversprechende Initiative zu besitzen.
Kurz vor der Zeitnotphase kam es zur Punkteteilung am Spitzenbrett, wo sich IM Roeland Pruijssers (2461) und Michael Hoffmann ein extrem komplexes Duell im Najdorf-Sizilianer geliefert hatten, in dem sich Material und Initiative permanent die Waage hielten, so dass das Remis letztlich das gerechte Ergebnis darstellte. Ein weiteres Remis nach bedeutend positionellerem Verlauf gab es zwischen IM Christian Richter (2374) und Thomas Michalczak, in dem der Münsterländer mit Weiß in einer semislawischen Nebenvariante gegen die exakte Verteidigung von Tom bis ins Endspiel keine Vorteile erzielen konnte.
Beim Stande von 2:1 wendeten sich dann aber gleich an vier Brettern die Ereignisse gegen uns: Markus Schäfer, der die ganze Partie gegen den Taimanov-Sizilianer von Kabatianski unangenehmes Druckspiel entwickelt hatte, gewann zwar einen Bauern, verlor dabei aber alle seine dynamischen Vorzüge, und musste wenig später ebenfalls in die Punkteteilung einwilligen. Fast parallel war der Spielverlauf bei Daniel Schlecht, der in einer scharfen Grünfeld-Variante mit Sf3 und Tb1 immer die Initiative besaß, aber gegen die exakte Verteidigung seines Gegners letztlich in einem Turm und Läuferendspiel landete, in dem sein Mehrbauer nur symbolischen Wert besaß.
Die endgültige Entscheidung fiel dann an Brett 2, wo in der Zeitnotphase Lorenz Drabke die Züge wiederholte, um den Gewinnplan ausarbeiten zu können. Als er endlich die siegverheißende Figurenumgruppierung erarbeitet hatte, fiel ihm auf, dass er diese nur durch die dritte Wiederholung der Stellung erreichen konnte. Bei herunter laufender Uhr machte er stattdessen einen impulsiven Zug, der nicht nur seinen gesamten Vorteil wegwarf, sondern auch zu einer Position führte, die bestenfalls mit sehr exakter Verteidigung noch zu halten gewesen wäre. Doch Lorenz war psychologisch ein geschlagener Mann und musste wenig später aufgeben. Das gleiche Schicksal ereilte auch Jörg Wegerle, der auch mit zähester Verteidigung seine erste Saison-Niederlage nicht verhindern konnte.
Passend zu diesem schwarzen Tag musste sich auch Michael Berg zum Abschluss geschlagen geben. Er hatte in einer Caro-Kann-Theorievariante mit Schwarz gegen Vasily Schudro (2176) komfortabel ausgeglichen und dann gegen die etwas unkonventionelle Spielweise seines Gegners auf Gewinn gespielt. Doch sein Plan ging taktisch nicht auf und er musste schließlich die Überlegenheit des gegnerischen Läufer und Springer-Tandems gegen seinen Turm und den Mehrbauern am Königsflügel anerkennen, wonach die heftige 2:6-Niederlage perfekt war.
Doch bereits am Abend hatte die Mannschaft wieder ihren Humor wieder gefunden. Schließlich ist es für den angestrebten Aufstieg besser, einmal 2:6 als viermal 3½:4½ zu verlieren…