In der Solinger Schach-Gemeinschaft gilt Jörg Wegerle schon lange als der Wunschkandidat für den letzten verbleibenden Spieler, falls ein Mannschaftskampf erst in der letzten Partie entschieden wird. Schließlich hat der 28jährige in der II. Mannschaft und diversen Pokalmatches dank der idealen Kombination von Zähigkeit, guter Endspieltechnik und Nervenstärke schon sehr viele »Big Points« in entsprechenden Situationen eingefahren. Nun konnte er diese besondere Qualität auch zum Auftakt der Bundesliga-Saison ausspielen: zum Abschluss eines sehr ausgeglichenen Kampfes, bei dem nach der ersten Zeitkontrolle lediglich eine Partie beendet war, knetete er ein leicht vorteilhaftes Doppelturmendspiel gegen FM Dr. Joachim Asendorf (2357) nach fast 7 Stunden zum Gewinn und sicherte uns einen unerwarteten 4½:3½-Erfolg gegen Gastgeber Werder Bremen. Der Sieg von Jörg rundete zudem den perfekten Tag der deutschen Achse ab, da zuvor bereits Alexander Naumann und Michael Hoffmann volle Zähler erzielt hatten, welche die Niederlagen von Predrag Nikolic und Mads Andersen kompensierten.
Wenn unser Bundesliga-Team in den letzten 10 Jahren einen Angstgegner besaß, dann war es zweifellos Werder Bremen. Selbst in unseren besten Saisons setzte es fast immer glatte und verdiente Niederlagen gegen die Werderaner und dieses Phänomen setzte sich auch im März dieses Jahres nahtlos fort, als die Grün-Weißen auch nach ihrer Kader-Neuausrichtung als nominell klarer Außenseiter unserer nahezu in Bestbesetzung antretenden SG-Mannschaft eine bittere Niederlage vor heimischer Kulisse zufügten. Knapp ein halbes Jahr später waren die Vorzeichen fast genau umgekehrt: während Bremen in den Logen des Weserstadions erwartungsgemäß eine starke Mannschaft an die Bretter brachte, fehlten bei uns in Anbetracht der aktuellen finanziellen Situation doch einige Stammkräfte. Die Gastgeber waren daher insbesondere durch die Elo-Vorteile an den Spitzenbrettern leicht favorisiert.
In der Folge entwickelte sich ein sehr zähes Ringen beider Mannschaften, bei dem von Beginn an deutlich wurde, dass dieser sehr enge Kampf nur durch Nuancen entschieden werden würde. So mussten die Zuschauer vor Ort bis zur ersten Zeitkontrolle warten, bevor eine Partie beendet wurde. Das Live-Portal beförderte nach knapp 4 Stunden erfreuliche Entwicklungen von der Weser in die Klingenstadt: im Duell zweier Urgesteine ihrer jeweiligen Mannschaften präsentierte sich Alexander Naumann gegen den tschechischen GM Vlastimil Babula (2569) in exzellenter Spiellaune. In einem Rubinstein-Nimzo-Inder setzte er den thematischen Zentrumsvorstoß mit f3 und e4 durch, wodurch sich die Stellung ideal zu seinen Gunsten öffnete. Babula, der vor kurzem noch überlegen das Bremer GM-Turnier gewonnen hatte, musste in Anbetracht der Dominanz der sehr harmonisch platzierten weißen Türme und Läufer seine Dame für zwei Leichtfiguren geben, wonach Alex auch den technischen Teil souverän zur Führung verwertete.
Auch das zweite Resultat des Tages entsprach den Vorstellungen von Teamchef Herbert Scheidt: am Spitzenbrett praktizierte Markus Ragger gegen den Chebanenko-Slaven des vermutlich stärksten Schach-Amateur der Welt, GM Luke McShane (2697), erfolgreich das Prinzip der kontrollierten Offensive, so dass das Stellungsgleichgewicht niemals ernsthaft gestört war und es bei reduziertem Material zum leistungsgerechten Friedensschluss kam. Weniger erfreulich entwickelten sich die Ereignisse am 4. Brett, wo der dienstälteste Bremer GM Zbynek Hracek (2639) mit einer Nebenvariante gegen den Winawer-Franzosen von Predrag Nikolic leichten Raumvorteil erzielte und dann kontinuierlich fast in typischem Predrag-Stil kleine Vorteile gegen den Bosnier anhäufte. Nikolic versuchte sich noch unter Bauernopfer zu befreien, doch auch das entstehende Turm + Läufer-Endspiel behandelte der Tscheche makellos und erzielte so den Ausgleich.
Es folgte ein voll ausgekämpftes, absolut korrektes Remis zwischen Jan Smeets und GM Zahar Efimenko (2661). Aus einer aktuell recht modischen Spanisch-Variante mit 4… Sge7 entwickelte sich ein sehr interessantes Mittelspiel mit einer dynamischen Benoni-Struktur, in der jedoch beide Seiten bis zum ausgelichenen Turmendspiel keine Vorteile erzielen konnten. Nach knapp fünf Stunden brachte dann IM Matthias Blübaum (2510) die Werderaner in Führung. Mads Andersen verpasste die rechtzeitige Rochade und blieb in der semislawischen Variante, die sich dann schnell zu einer Tarrasch-Struktur umwandelte, mit dem schwarzen König in der Brettmitte hängen. Auch der Damentausch brachte keine hinreichende Entlastung und Blübaum transformierte seine Initiative gegen den schwarzen Monarchen schließlich in einen entscheidenden Materialgewinn.
Trotz des Rückstands von 2:3 hoffte Teamchef Scheidt weiterhin auf mindestens einen Mannschaftszähler, da wir an den beiden hinteren Brettern »am Drücker« waren, während Erwin L’Ami trotz eines Minusbauern im Damenendspiel gute Remisaussichten gegen GM Laurent Fressinet (2710) besaß. Der Franzose hatte gegen das sehr solide Damengambit von Erwin nichts erreicht, dann aber in der Zeitnotphase zumindest einen Bauern gewonnen. Allerdings war das Damenendspiel mit f- und doppeltem g-Bauer gegen Erwins g- und h-Bauer kaum zu gewinnen, so dass Erwin schließlich nach 84 Zügen einen eminent wichtigen halben Zähler durch Dauerschach einfuhr. Kurz vorher hatte Michael Hoffmann gegen den Debütanten im Werder-Dress, IM Alexander Markgraf (2483) den erneuten Ausgleich erzielt. Michael hatte gegen den gegnerischen Leningrader-Holländer mit Weiß nichts erreicht und stand vielleicht sogar minimal schlechter, als Markgraf mit seinen beiden Türmen gegen die weiße Dame zu optimistisch agierte, was Michael das Eindringen in die schwarze Stellung ermöglichte und ihm schließlich drei Mehrbauern einbrachte. Diese sich ihm unverhofft bietende Chance nutzte er optimal und drehte den Kampf wieder in unsere Richtung.
Denn in der letzten Partie musste FM Dr. Joachim Asendorf (2357) mit den weißen Steinen gegen Jörg Wegerle nun eine äußerst undankbare Position verteidigen. Im Doppelturmendspiel mit jeweils sechs Bauern standen beide weißen Türme sehr passiv, was nach einigem Lavieren schließlich zu einem schwarzen Mehrbauern führte. Diesen Vorteil wusste Jörg mit guter Technik zu nutzen und sorgte damit für einen etwas glücklichen, aber in Anbetracht der starken kämpferischen Gesamtleistung definitiv nicht unverdienten 4½:3½-Sieg, was einen tollen Einstand in die vielleicht letzte Bundesliga-Saison bedeutete.