Diejenigen Skeptiker, welche fortwährend behaupten, dass das klassische Schach mit einer Partiedauer von 6 Stunden nicht mehr zeitgemäß sei und viel zu wenig Spannungselemente böte, wären als Zeugen des Regionalliga-Kampfes zwischen dem Ratinger SK und unserer III. Mannschaft definitiv eines Besseren belehrt worden. Das Auswärtsspiel beim NRW-Klassenabsteiger bot für die anwesenden Zuschauer und für die Beteiligten ein Wechselbad der Gefühle, dass letztlich in einem 4:4 endete. Die verschiedenen Wendungen des Kampfes hätten auch durchaus für ein klassisches Drama in 5 Akten ausgereicht, das nachfolgend kurz nachgezeichnet werden soll:
1.Akt : Der betrübte Kapitän
9.59 Uhr in Ratingen: der Stadionring ist in spätsommerliche Sonnenstrahlen gehüllt – es treten 15 Protagonisten auf. Die heimischen Recken sind mit 8 zu 7 in der Überzahl. Was ist passiert? Kevin Zolfagharian als einer der für das Transportwesen zuständigen Solinger Akteure hat nur einen weiteren Kämpfer mitgebracht. Wie sich später herausstellt, haben er, Stephan Borchert und Thomas Lemanczyk sich verabredet, im Glanze der Morgenröte (ok, etwas später…) gemeinsam den Weg ins entfernte Ratingen aufzunehmen, sind dabei aber offenbar von zwei verschiedenen Orten als Treffpunkt ausgegangen. Diese Problematik sollte sich doch im 21. Jahrhundert mit den Wunderwerken mobiler Kommunikation lösen lassen – jedoch nicht, wenn eine Nummer nicht bekannt ist und bei der anderen niemand abnimmt, weil ein pflichtbewußter Schachspieler sein Handy zur prophylaktischen Vermeidung eines Partieverlustes zuhause gelassen hat…
Diese Nachricht trübt die Laune der Solinger Recken, doch sie haben auch so ein Septett sehr erfahrener Kämpfer mit einigen Meriten am Start, dass diesen Nachteil auszugleichen vermögen sollte. Doch ausgerechnet der Kapitän Oliver Kniest ist nur zwei Stunden später voll des Grams. Er selbst hat nämlich bereits in der Eröffnung mit Weiß die Varianten verwechselt und seinem Gegner die Initiative überlassen. Dennoch haben seine Teamkameraden noch keine größeren Sorgen aufgrund seiner minimal schlechteren Stellung, als er ohne Not seinen Gegner zu einem Qualitätsopfer förmlich zwingt, was dieser nur allzu gerne annimmt. Olli verspricht sich dadurch einen unklaren Kampf, doch die elektronischen Rechenmonster des königlichen Spiels verweisen später in der von ihm gezielt angestrebten und erreichten Stellung auf einen trotz einer Minusqualität bestehenden schwarzen Vorteil von ca. 6,5 Bauerneinheiten. Kopfschüttelnd verbleibt ihm nur die Aufgabe zum 0:2, eine Tragödie bahnt sich an…
2.Akt: Die Aufholjagd
Doch die glorreichen Solinger Sieben sind nicht umsonst mit beachtlichen DWZ-Zahlen ausgestattet, welche ihre Qualitäten im fairen schachlichen Zweikampfe dokumentieren sollen. Zudem verfügen sie über immense Kampfkraft und machen diese in den kommenden beiden Stunden deutlich. Milon Gupta steht mit den schwarzen Steinen in einer katalanischen Struktur minimal schlechter, als sein Gegner FM Ralf Gräber mit taktischen Verwicklungen die Lage zu seinen Gunsten weiter verbessern möchte. Doch Milon widerlegt diese Versuche mit einer Mischung aus asiatischem Gleichmut und Rechenpräzision und verbleibt mit einer Mehrqualität, die er zum Anschlusstreffer verwertet.
Nun möchte Spitzenbrett Michael Berg nachziehen und knetet seinen Gegner in einem Endspiel mit Läuferpaar gegen Läufer und Springer. Doch dieser verteidigt sich präzise und rettet nach vier Stunden einen halben Zähler. Dafür gelingt einem der erfolgreichsten mannschaftlichen Zweikämpfer der letzten Jahre, Andreas Peschel, der Ausgleich. In einer Slawisch-Struktur behandelt er mit Schwarz das Mittelspiel pointiert und erobert schließlich eine Qualität, welche ihm später den vollen Zähler einbringt.
3.Akt: Die Zeitnotphase
Was bei den Römern »Brot und Spiele« waren, ist bei den Schachspielern die Zeitnotphase. Im niederrheinischen Umfeld wird sie noch nach alter Tradition, also ohne Netz und doppelten Boden (neudeutsch: Inkrement), begangen. Die Zuschauer wollen ein Spektakel, also hochrote Köpfe und zitternde Hände, sehen – und sie bekommen es geboten! Ralf Hubert ist nur noch selten aktiv, doch bei jedem seiner Auftritte spürt man die Bestnoten, die er einst in dem Kurs »Kreative Kampfesführung« erhalten hat. Auch diesmal begeistert er mit einem originellen Konzept, opfert mit Schwarz frühzeitig eine Qualität für zwei starke Zentrumsbauern und einen schwarzfeldrigen Läufer ohne Widerpart. Auch sein Gegner, immerhin der amtierende Meister des Niederrheins, Andreas Probst, fühlt sich nicht wohl und offeriert die friedliche Punkteteilung, schließlich sind von beiden Spielern gleich fast 20 verantwortungsvolle Zug-Entscheidungen in solcher Windeseile zu treffen, dass sie nicht einmal mehr zum Mitschreiben kommen werden. Hubert brütet lange, erkennt taktische Probleme bei seiner Angriffsführung, fragt den Kapitän um Erlaubnis zur Annahme des Angebots, doch dieser widersetzt sich aufgrund der unklaren Gesamtlage seinem Wunsch und liegt leider wiederum falsch!
In den folgenden Minuten verteidigt sich Probst präzise, gewinnt die Oberhand und beide schaffen nach einer stakkato-artigen Blitzphase die Zeitkontrolle mit dem 41. Zug. Es ist ein interessantes Endspiel entstanden, in dem Weiß Turm, Springer, Läufer und einen Bauern besitzt, während Hubert mit Turm, einem andersfarbigen Läufer und drei Bauern um das Remis kämpft. Parallel hat allerdings Stephan Borchert in einer verschachtelten Caro-Kann-Stellung in der Zeitnotphase einen schönen Bauerndurchbruch auf d5 realisiert, gewinnt dadurch eine Qualität und scheint auf der Siegerstraße zu sein.
4. Akt: Die Vorboten des Happy Ends
Nach diesen Aufregungen ändert sich in der fünften und sechsten Stunde die Strategie. Statt dem Hauen und Stechen bei knapper Zeit ist nun eine filigrane Kampfesführung gefragt. Im Windschatten der beiden gerade beschriebenen Zeitnotschlachten zeigt sich im dritten noch verbliebenen schachlichen Gefecht Kevin Zolfagharian bei diesem Wechsel vom Säbel auf das Florett in formidabler Verfassung. In einem minimal besseren Endspiel mit Turm, gleichfarbigen Läufern und jeweils fünf Bauern opfert er mustergültig zwei Bauern, um seinem König den Weg zur Unterstützung seines Freibauern freizuräumen. Nach über 5½ Stunden ist er dank exzellenter Technik am Ziel und gewinnt den gegnerischen Läufer, der sich für seinen Freibauern opfern muss. Währenddessen wird im Foyer unter den Zuschauern über »Hubis« Endspiel diskutiert. Die Meinungen gehen bei den zahlreichen Experten von »das ist klar Remis« bis zu »das ist definitiv für Weiß gewonnen« auseinander, wobei fast alle mit Nachdruck vorgetragenen Einschätzungen durch die Aussage »… ich habe nur keine Ahnung, wie und warum…« ein wenig relativiert werden. Letztlich entscheidet sich Ralf für den Abtausch der Türme, was sich als die falsche Verteidigungsstrategie herausstellt. Sein Gegner zeigt ebenfalls starke Technik und bringt den Punkt nach fast sechs Stunden nach Hause.
Doch inzwischen hat Kevin ebenfalls gewonnen und beim Stande von 3½:3½ sind alle Vorgaben für eine typische Shakespeare-Komödie erfüllt: es erscheint wie ein heilloses Durcheinander und man weiß nicht warum, aber es geht auf jeden Fall gut aus!
5.Akt: Der tragische Schluss-Akkord
Schließlich hat Stephan Borchert nicht nur Material gewonnen, sondern sein Gegner hat bei der verzweifelten Suche nach Verteidigungs- und Gegenspielideen auch Unmengen an Bedenkzeit investieren müssen, so dass ihm nur noch knapp 2 Minuten für den Rest der Partie gegen komfortable 20 bei Stephan verbleiben. Doch dieser, obwohl seit geraumer Zeit in Topform, wird ebenfalls merklich nervöser – die Last der letzten Partie macht sich bemerkbar. Er lässt unnötigerweise das Schlagen seines gefährlichen Freibauern zu und vertraut auf seinen Mehrspringer im Damenendspiel. Doch dies erschwert die Gewinnführung und sein unverdrossen kämpfender Gegner kreiert Dauerschach-Ideen, so dass sich Stephan zum Abtausch der Damen entschließt. Doch er hat unterschätzt, wie wenige Bauern ihm verbleiben, das Gewinnmaterial wird immer geringer und schließlich schafft sein Gegner mit etwa 15 Sekunden Restbedenkzeit den letzten weißen Bauern zu schlagen und belohnt sich für seine tolle Verteidigungsleistung.
Das 4:4 ist perfekt. Ein untröstlicher Stephan, konsternierte Solinger und glückliche Ratinger bleiben zurück. Alle Protagonisten treten nach 6 Stunden von der Bühne ab.
Epilog
Die von den wechselhaften Geschehnissen ebenfalls ganz mitgenommenen Zuschauer beginnen sich nach kurzem Innehalten zu fragen, ob dieser salomonische Ausgang denn nun gerecht sei. Doch auch sie sehen nur betroffen den Vorhang fallen und diese zentrale Frage offen!
Ende. Applaus!