Falls jemand noch einmal die absurde These aufstellen sollte, dass Schach langweilig sei, so wird er leicht von seinem Irrglauben dadurch kuriert werden können, dass man ihm eine Dauerkarte für die Kämpfe unserer U20w-Mannschaft überlässt. Nach dem durchaus bereits nervenaufreibenden ersten Tag bei den Deutschen Meisterschaften in Braunschweig sorgten die vier jungen Damen noch einmal für eine weitere Steigerung und boten in zwei Marathon-Kämpfen gegen den Düsseldorfer SK und die TuRA Harksheide so ziemlich alles, was unseren Sport ausmacht. Am Ende des Tages erreichten sie nach diversen Zeitnotdramen mit viel Kampfgeist und Können und vor allem auch dem notwendigen Glück einen 3:1-Sieg im Niederrhein-Derby und ein 2½:1½ im nachfolgenden Spitzenspiel und gehen so mit 7:1 Punkten als Tabellenführer in die zweite Turnierhälfte.
Die Duelle gegen unsere Freunde vom Düsseldorfer SK gehören inzwischen bereits zu den Klassikern des Mädchen-Schachs. Die meisten Spielerinnen kennen sich bereits seit Jahren, sind vielfach befreundet und haben unzählige NRW- und Deutsche Meisterschaften gemeinsam absolviert. Zudem gehören mit Eva Rudolph und Judith Sokolowski zwei der DSK-Stammkräfte seit dieser Saison auch zu unserer Damenmannschaft, die den Aufstieg in die 2. Bundesliga anstrebt. Sehr merkwürdig muss sich vor allem Alexander Berelowitsch vorgekommen sein, der als Trainer der Düsseldorfer erstmals in einem Kampf gegen seine eigene Tochter Dana antreten musste.
Auf jeden Fall sind im prestigeträchtigen Niederrhein-Derby stets sehr knappe und spannende Kämpfe garantiert und das heutige Duell sollte sich nahtlos in diese Tradition einfügen. Der Auftakt verlief für uns noch wunschgemäß: In der Partie der beiden »Neuzugänge«, für die es jeweils das erste Lokalderby war, profitierte Yaroslava Sereda in einer typischen Französisch-Struktur vom sehr unglücklichen 19… Lg5 ihrer Gegnerin Lorena Cerkez, was Yaroslava diverse Tempi für ihren Königsangriff schenkte und für die schnelle Führung sorgte.
Doch an den Mittelbrettern verlief die Entwicklung parallel weit weniger erfreulich: Luisa Bashylina hatte mit Weiß in einer sizilianischen Igelstruktur gegen Eva Rudolph (1792) Vorteile herausgespielt, wollte dann aber zu schnell im Angriff gewinnen. So zeigte sie mit dem Läuferopfer auf h7 und dem späteren 19. Tf6 die klassischen Taktikmotive, die hier aber an den konkreten Gegebenheiten der Stellung scheiterten, Trotz sehr knapper Bedenkzeit fand Eva eine gute Verteidigung, befreite sich unter temporärem Damenopfer und münzte ihren Materialvorteil zum 1:1-Ausgleich um.
Nun schien bestenfalls noch ein Unentschieden für uns möglich. Denn Dana Berelowitsch hatte mit den schwarzen Steinen gegen die U16w-NRW-Meisterin dieses Jahres, Judith Sokolowski (1792) in taktischen Komplikationen eine Figur verloren und musste auf Schwindelchancen gegen den etwas unsicher postierten weißen König hoffen. Objektiv blieb ihre Position verloren, doch bei immer knapper werdender Bedenkzeit stellte Dana praktische Probleme, die schließlich dazu führten, dass Judith in einem Moment zu lange zögerte und in Gewinnstellung die Zeit überschritt.
Damit war die Ausgangslage für das Spitzenbrett natürlich auf den Kopf gestellt: zuvor hatte Melanie Müdder von Mannschaftsführer Joachim Görke bereits die Weisung erhalten, jegliche Remisangebote abzulehnen und mit den schwarzen Steinen ihre typische Rossolimo-Struktur gegen Lisa-Marie Möller (1934) auf Gewinn zu spielen. In der Tat konnte Melanie schrittweise die Position für ihr Läuferpaar öffnen und sogar eine Qualität gewinnen. Doch in beiderseitiger Zeitnot wurde die Lage wieder unklar. Letztlich wurde ein Endspiel mit Springer und vier Bauern von Lisa-Marie gegen einen Turm und einen Bauern von Melanie erreicht, das aber aufgrund der weißen Bauernstruktur keine ernsthaften Gewinnaussichten für beide Seiten bot. Doch aufgrund der Ereignisse am dritten Brett musste nun plötzlich Lisa-Marie auf Gewinn spielen, was letztlich zu einem Figureneinsteller führte, so dass unsere Mädels sich über ein schmeichelhaftes, aber auch hart erkämpftes 3:1 freuen durften.
Nach nur knapp 1½ Stunden Pause stand dann das Spitzenduell gegen den verlustpunktfreien Tabellenführer TuRA Harksheide an. Der Verein aus Schleswig-Holstein hat sich unter Federführung des unermüdlichen Eberhard Schabel in den letzten Jahren zur ersten Adresse des Mädchenschachs in Deutschland entwickelt und mit einer aus der Mädchenabteilung hervorgehenden Damenmannschaft den Aufstieg bis in die Bundesliga geschafft. Eine weitere besondere Note gewann die Begegnung dadurch, dass mit Amina Sherif unsere langjährige Spielerin nun erstmals gegen Solingen antreten musste.
Nominell war der Kampf extrem ausgeglichen, so dass es nicht verwunderte, dass sich erneut vier spannende Partien entwickelten, welche die Betreuer einige Nerven kosten sollte. An unseren beiden Schwarz-Brettern entwickelte sich ein Theorie-Duell im geschlossenen Sizilianer, bei dem Luise Schnabel (1836) und Anna-Blume Giede (1642) mit dem bekannten Bauernopfer 10. e5 Luisa Bashylina und Yaroslava Sereda unter Druck setzten. Luisa reagierte mit einem interessanten Qualitätsopfer, das die Lage völlig unklar gestaltete, während Yaroslava einen Bauern abgab, dafür aber zumindest etwas Gegenspiel besaß.
Parallel hatte sich Melanie Müdder in ihrer Weiß-Partie gegen die französische Verteidigung von Inken Köhler (1998) solide positionelle Vorteile herausgearbeitet, als ihre Gegnerin auf mysteriöse Art und Weise eine Qualität einstellte, was den weißen Vorteil zementierte. Derweil hatte Dana Berelowitsch gegen den Sizilianer von Amina Sherif (1995) bereits in der Eröffnung einen Bauern geopfert, erhielt dafür insgesamt aber keine hinreichende Kompensation.
Mit dieser Ausgangslage ging es in eine Zeitnotphase an allen vier Brettern, was den Mannschaftsführer von Harksheide zum Vorschlag an Joachim Görke verleitete, dass es für ihre Gesundheit deutlich besser wäre, jetzt gemeinsam ein Bier trinken zu gehen … Wie erwartet hielt die Blitzphase genügend Aufregung für alle Beteiligten bereit. Zunächst kämpfte sich Dana bravourös in die Partie zurück, doch als sie gerade objektiv im Schwerfigurenendspiel ausgeglichen hatte, unterlief ihr im 32. Zug der entscheidende Fehler, so dass Amina wenig später für die Führung von Harksheide sorgte. Parallel hatte Yaroslava im Sinne der Mannschaft alles auf eine Karte gesetzt und trotz Minusbauern ein gegnerisches Remisangebot abgelehnt. Erneut zahlte sich dieses hohe Risiko aus, denn sie behielt in der Blitzphase die besseren Nerven und drehte die Partie noch zum Sieg.
Doch auch nach der Zeitkontrolle waren die Aufregungen bei weitem noch nicht vorbei. Luisa hatte ihr geopfertes Material mit besserer Stellung und Mehrbauern zurückerhalten, doch ihre Gegnerin kämpfte sich zurück und erhielt nach einem Fehler Luisas plötzlich wieder Gewinnchancen, da ihr Freibauer auf der c-Linie nicht mehr aufzuhalten war. Schließlich gelang es unserer Deutschen U14w-Meisterin in ein Endspiel mit Turm und drei Bauern gegen Turm, Läufer und einen Bauern abzuwickeln, das ihrer Gegnerin keine Gewinnaussichten mehr bot, so dass hier nach 60 Zügen ein enorm wichtiges Remis verzeichnet werden konnte.
So war der Siegestreffer für Melanie vorbehalten, die gerade nach der unglücklichen Doppel-Null am Auftakttag eine tolle Reaktion zeigte. Souverän verwertete sie ihre Mehrqualität und wickelte in ein gewonnenes Bauernendspiel ab, so dass nach über fünf Stunden Kampf der 2½:1½-Sieg feststand.
Somit hat unser Quartett nach einem langen Tag mit fast 10 Stunden Schach den Tabellenführer TuRA Harksheide überholt und liegt nun mit 7:1 Punkten vor einem Verfolgertrio mit jeweils 6:2 Zählern in Führung. Die Mädels sind hochmotiviert, diese Position nicht mehr abzugeben. Morgen geht es zunächst im nächsten Prestigeduell gegen die U20w der OSG Baden-Baden.